Wenn Erfolg stets Resultat eines großen Plans wäre, müsste der Tourismus in Deutschland in einem tiefen Siechtum stecken. Doch das Gegenteil ist der Fall: Hotels und Ferienhausanbieter hierzulande haben eine berauschende Rekordserie von zehn Jahren hinter sich. Fast 500 Millionen Übernachtungen weist die amtliche Statistik für 2019 aus, erst 2012 war die Marke von 400 Millionen Übernachtungen von Gästen aus dem In- und Ausland übersprungen worden. Für 2020 sehen die Herbergen den elften Rekord schon als nahezu sicher an.
So klingt das deutsche Urlaubswunder. Der Tourismus eilt von Rekord zu Rekord. Dabei fehlt jegliches Konzept, wo Deutschland als Reiseland hin will. Das Urlaubergeschäft sichert etwa 7 Prozent der Arbeitsplätze. Es sorgt für fast 4 Prozent der Wertschöpfung, Einzelhandel und Maschinenbau erreichen diesen Wert nicht. Doch der Erfolg ist Resultat vieler kleiner Schritte einzelner Betriebe und Kommunen, mit Blick auf das gesamte Land fehlt der Plan. Die nationale Tourismusstrategie, die von der aktuellen Koalition im Bund nach gefühlt ewigen Bitten der Branche versprochen wurde, ist längst nicht fertig. Wofür der Staat Geld geben will mit der Aussicht auf künftig florierendere Geschäfte ist diffus.
Falsch wäre es, den Aufstieg einer Branche von staatlichen Plänen abhängig zu machen. Doch die aktuelle Planlosigkeit treibt absurde Blüten: Für hiesige Urlaubsorte ist es leichter, neue Schilder für Wanderwege finanziert zu bekommen, als bessere Bahnanbindungen zu erhalten, damit mehr Gäste umweltschonend anreisen. Die Tourismusförderung ist zudem zunächst Sache der Kommunen. Herrscht dort Finanznot, gerät die freiwillige Aufgabe mit als erste unter Druck. Gleichzeitig wächst ein Dschungel mit Hunderten Fördertöpfen von EU, Bund und Ländern, in dem selbst Fachleute die Orientierung verloren haben. Während in einem Ort Geld fehlt, bleiben Mittel an anderer Stelle liegen.
Mit Blick auf die Infrastruktur klaffen auch noch Lücken im Fördersystem. Zu lange hat man sich darauf ausgeruht, dass bewaldete Hänge in Harz und Schwarzwald sowie Moselschleifen schön anzusehen sind. Die Schlagworte Mobilität, Digitalisierung und Nachhaltigkeit benennen die Schwachpunkte des Inlandstourismus. Das hat Folgen: Deutschland-Urlaub geht aktuell nicht als Klimaschutzaktion durch. Drei Viertel der Gäste fahren mit dem Auto zur Küste oder zum Königssee. Die in jedem Sommer wiederkehrenden Staus auf Autobahnen veranschaulichen das eindrucksvoll. Für Urlauber, die etwas vom Land sehen wollen, sind öffentliche Verkehrsmittel vor Ort selten eine Alternative. Am Strand oder auf dem Wanderweg fehlt dann auch noch der Mobilfunkempfang. Mitunter ist es einfacher, Trainingsstunden auf Mallorca vorab online zu buchen als in einem deutschen Ort.
Doch Versäumnisse gibt es auch in der Reisebranche. Lange hat sie das Geschäft mit Inlandsurlaubern – beinahe arrogant – belächelt. Mit Massenzielen am Mittelmeer ließen sich leichter Umsätze und Margen steigern. Reisebüros verkauften lieber Flugreisen, weil das inkludierte Flugticket den Gesamtpreis und somit die Provisionen nach oben trieb. Mittelmeerreisen sind eine Domäne der Branchengrößen geblieben, bei Inlandsreisen sind sie nur Randfiguren. Die Deutschen geben immer mehr für Reisen aus, doch ein wachsender Teil des Geschäfts läuft an traditionellen Buchungen vorbei.
Bislang haben Reisekonzerne und Reisebüros Glück gehabt, dass diese Entwicklung lediglich Wachstumsraten gedämpft und nicht auf einen Schrumpfkurs geführt hat. Egal welche Klimaherausforderungen oder welche politischen Krisen auf der Welt diskutiert werden: Zum großen Urlauberschwenk von Kreta und Mallorca nach Borkum und Amrum ist es noch nicht gekommen. Knapp ein Drittel aller Haupturlaube führt zu Zielen im Inland, dieser Wert ist seit langem nahezu konstant. Das muss nicht so bleiben. Noch erklärt sich die wachsende Popularität deutscher Ziele durch eine andere Veränderung: Neben dem Haupturlaub werden immer mehr Zweitreisen angetreten. Doch was in den Osterferien gefällt, kann auch zum Sommerziel werden.
Die Potentiale des Tourismus in Deutschland sind längst nicht ausgeschöpft. Das ist eine Mahnung an Wirtschaftspolitiker, einer hoffnungsvollen Entwicklung einen hilfreichen Rahmen zu geben. Touristiker sollten auch nicht darauf hoffen, dass es die öffentliche Hand schon richtet. Die Zeiten der leicht erreichbaren Umsatzsprünge mit Großkontingenten für Massenziele unter sengender Sonne sind vorbei. Ergreifen Politik und Branche nun die Chancen, lässt sich aus dem deutschen Urlaubswunder ein noch größerer Erfolg machen.